Journalist Gerhard Feldbauer und der damalige Premierminister Pham Van Dong bei einem Interview. (© Gerhard Feldbauer) |
Reporter: Sehr geehrter Herr Gerhard Feldbauer, könnten Sie als Experte für vietnamesische Geschichte bitte Ihre Einschätzung der Beziehungen zwischen Vietnam und Frankreich in den vergangenen Jahren und zu den Aussichten dieser Beziehungen in der kommenden Zeit sowie der Bedeutung des Besuchs von Premierminister Pham Minh Chinh in Frankreich unter diesem Aspekt äußern?
Historiker Gerhard Feldbauer: Zunächst möchte ich einen Blick auf die Beziehungen zu Frankreich nach der Erringung der Unabhängigkeit 1954 werfen. Denn die Vietnamesen haben ein gutes Geschichtsgedächtnis und vergessen nicht die Haltung, die Frankreich zum Krieg der USA gegen Vietnam einnahm. Paris unterhielt danach als einziger NATO-Staat zur DRV noch diplomatische Beziehungen auf der Ebene einer Botschaft. Nur Großbritannien war noch durch einen Konsul vertreten. Unter Charles de Gaulle als Staatspräsident spielte Frankreich eine gewichtige Rolle in den von den Friedenskräften getragenen internationalen Bemühungen zur Beendigung des USA-Krieges. De Gaulle hatte aus der Niederlage in Dien Bien Phu Schlussfolgerungen gezogen, 1960 den französischen Kolonien formal die Unabhängigkeit gewährt, 1962 den Krieg in Algerien beendet und dessen Unabhängigkeit anerkannt. Als Begründer der Politik der „Grande Nation“ trat er gegen den Führungsanspruch der USA in der NATO auf. Nicht zufällig erklärte er 1965, ein Jahr nach dem Beginn des USA-Luftkrieges gegen die DRV, den Austritt Frankreichs aus der militärischen Integration des Paktes und forderte, das Hauptquartier SHAPE aus Frankreich abzuziehen. Frankreich unterstützte offen die Aufnahme von Friedensverhandlungen, was dazu beitrug, dass Washington Paris als den von der DRV und der FNL Südvietnams vorgeschlagenen Verhandlungsort akzeptieren musste. De Gaulle persönlich forderte mit Nachdruck den Abzug der amerikanischen Truppen aus Vietnam und die Einstellung jeglicher ausländischer Intervention und später die Neutralität des Landes. Nicht übersehen sollte man, dass Frankreich auch heute – im Gegensatz zu Partnern wie den USA oder der Bundesrepublik Deutschland – sich der Einmischung in die inneren Angelegenheiten Vietnams enthält.
Dass mit Frankreich so nach dem Sieg über die USA 1975 und der Wiederherstellung der Einheit in Gestalt der Sozialistischen Republik Vietnam 1976 von Anfang an diplomatische Beziehungen bestanden sehe ich als eine wesentliche Grundlage der Entwicklung privilegierter Beziehungen zwischen beiden Ländern. Davon zeugten zahlreiche Besuche hochrangiger Politiker wie der Präsidenten Jacque Chirac 2004 und Francois Hollande 2016 in Vietnam und die Visite von Ministerpräsident Nguyen Tan Dung 2015 in Paris. 2013 schlossen beide Seiten eine „strategische Partnerschaft in Wirtschaft, Sicherheit und Verteidigung“. Frankreich wurde so einer der größten europäischen Partner Vietnams. Während es aus Vietnam die meisten Schuhe, Textilien, Fische und weitere Konsumgüter importiert, führt es dorthin Luftfahrtausrüstungen, Produkte der Pharmazie und Chemikalien aus. Es ist mit 375 Projekten, die sich auf bis zu 3,1 Milliarden US-Dollar belaufen, der zweitgrößte europäische Investor in Vietnam. Über 2.500 vietnamesische Ärzte haben ein Studium in Frankreich absolviert und derzeit befinden sich weitere über 7.000 Schüler und Studenten zur Ausbildung in Frankreich.
Ich habe gerade die jüngsten Informationen des Ministeriums für Industrie und Handel eingesehen, die beeindruckend sind. Danach hat der gesamte Handelsumsatz zwischen beiden Seiten 2020 fast 6,35 Milliarden Euro erreicht, wovon Vietnam 5,38 Milliarden Euro exportierte und 965 Millionen Euro importierte. In den ersten fünf Monaten 2021 erreichte Vietnam mit einem Export von mehr als 2,21 Milliarden Euro ein Plus von 14,8 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2020 (1,92 Milliarden Euro). Frankreich konnte bei einem Export mit 507,2 Millionen Euro ein Plus von 33,3 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2020 (380,5 Millionen Euro) erreichen. Damit ist Frankreich ein führender Partner Vietnams in Europa. Beide Seiten werden also auf einem soliden Polster die weitere Kooperation beraten.
Aus meiner Sicht wird es um die weitere Gestaltung und Festigung der strategischen Beziehungen gehen. Für Vietnam wird ein Ausgangspunkt die Umsetzung des 2019 geschlossenen EU-Vietnam Investment Protection Agreement (EVIPA) sein. Es ist nach der Ratifizierung in Brüssel am 1. August 2020 in Kraft getreten, aber von Paris noch nicht ratifiziert worden. Für Vietnam wird es darum gehen, seine Exporte auszubauen, während Frankreich sich gute Startpositionen bei der weiteren Öffnung des vietnamesischen Marktes für Investoren und Unternehmen sichern will. Den Medien ist zu entnehmen, dass Pham Minh Chinh dazu neben den Gesprächen mit Staatspräsident Macron, Premier Jean Castex und weiteren führenden Repräsentanten der Gesellschaft mit hochrangigen Unternehmern zusammentreffen wird.
Die Reise Pham Minh Chinhs folgt dem jüngsten Besuch des Präsidenten der Nationalversammlung Vuong Dinh Hue beim EU-Parlament und Gesprächen in Belgien, denen die Teilnahme an der 5. Weltkonferenz der Interparlamentarischen Union (IPU) in Wien vorausging. Diese bedeutsamen internationalen Aktivitäten werden jetzt mit dem Besuch des vietnamesischen Premiers in London und Paris fortgesetzt. Die Sozialistische Republik Vietnam setzt damit ein weiteres Zeichen, mit ihrer unabhängigen ausgeglichenen, vielseitigen wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technischen und kulturellen Zusammenarbeit einen Beitrag zu friedlicher internationaler Zusammenarbeit zu leisten.
Reporter: Vietnam sieht Frankreich als wichtigen Partner in Europa, während es für Frankreich ein ebenso bedeutender Partner vor allem in Südostasien, als Brücke zur Förderung seiner Partnerschaft mit der ASEAN sowie deren Beziehungen zur EU ist. Wie sehen Sie die weitere Entwicklung dieser vielseitigen Beziehungen?
Historiker Gerhard Feldbauer: Hier ist, meine ich, vom Platz Vietnams in Südostasien, aber zunehmend auch auf der internationalen Bühne auszugehen. Mit seiner führenden Rolle in der Wirtschaft Südostasiens und Mitglied der ASEAN als Verbund von zehn südostasiatischen Staaten, gilt es als eine regionale Mittelmacht mit Einfluss. 2017 richtete Hanoi das Asia-Pacific Economic Cooperation (APEC)-Treffen aus. 2020 hatte es den Vorsitz der ASEAN inne, 2020/21 die nicht-permanente Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat, in den es von 192 von 193 Mitgliedern gewählt wurde. Damit wurde das sozialistische Vietnam nicht nur auf regionaler, sondern auch auf internationaler Ebene als aktiver Akteur ein begehrter Partner, vor allem aber nicht nur für Großbritannien und Frankreich. Seine bilateralen strategischen Partnerschaften und Beteiligungen an Freihandelsabkommen machen Vietnam über die Region hinaus zu einem Vorreiter.
Hinzu kommt, dass Vietnam aufgrund seiner geografischen Lage ein spezielles geostrategisches Gewicht erhält. Es grenzt mit seiner 3.400 km langen Küste an das ressourcenreiche Südchinesische Meer, wo zugleich eine der wichtigsten Handelsrouten der Welt verläuft. Daraus ergeben sich internationale Herausforderungen, die bis in den Nahen und Mittleren Osten reichen.
Dabei schätzt Frankreich besonders den Pragmatismus, mit dem Vietnam an die Lösung strittiger Fragen herangeht. Dafür stand unter anderem, dass es nach dem Rückzug der USA aus der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) Teilnehmer des Nachfolgeabkommens mit zehn anderen Pazifik-Anrainerstaaten wurde. Geschätzt ist auch seine Geduld bei der Suche nach Konsenslösungen.
Frankreich übernimmt im Januar 2022 für sechs Monate das Amt des Präsidenten des Europäischen Rates. So ist es sicher auch unter diesem Aspekt kein Zufall, dass Minh Chinhs erster offizieller Besuch seit seinem Amtsantritt als Premier im vergangenen Jahr in Europa Frankreich gilt. Im Rahmen der Festigung der beiderseitigen Kooperation wird sicher stehen, die Beziehungen zwischen der EU und der ASEAN weiter zu fördern.
Reporter: In Europa ist neben Frankreich auch Deutschland ein wichtiger Partner Vietnams. Gegenwärtig wird in Deutschland eine neue, so genannte Ampelregierung gebildet. Wie sehen Sie die Entwicklung der Beziehungen zwischen Vietnam und Deutschland unter der neuen Regierung? Wird Berlin neue Akzente in seinen Beziehungen zur ASEAN oder zu Vietnam setzen?
Historiker Gerhard Feldbauer: Es erfolgt ein Wechsel von der bisherigen „Großen Koalition“ aus SPD und CDU/CSU zu einer neuen Koalition aus der SPD, den Grünen und Liberalen. Das ist ein Wechsel zwischen Parteien, die auf dem Boden des kapitalistischen Systems stehen und nicht die Absicht haben, daran zu rütteln. Die neue Koalition, an deren Spitze ja jetzt die SPD steht, die schon vorher an der Seite der CDU/CSU in der Regierungskoalition saß, will jetzt den Kapitalismus nur besser verwalten. Wie im Inneren im sozialen-ökonomischen Bereich sind in der Außen- und Wirtschaftspolitik und schon gar nicht im Verteidigungsbereich (NATO) grundsätzliche Änderungen zu erwarten. Zu rechnen ist mit Nuancierungen, so bei Fragen des Klimaschutzes.
Das sehe ich auch mit Blick auf die Beziehungen zu Vietnam so, wo die großen Konzerne die Linie vorgeben und die lassen sich im Vietnam-Geschäft von keiner Regierung „die Butter vom Brot“ nehmen. Das hat schon Bundeskanzlerin Merkel so respektiert. Und Scholz, der das schon als ihr Vize mitmachte, wird das jetzt als Regierungschef nicht anders halten. Nicht zuletzt auch, weil Deutschland hier mit Frankreich auf einem lukrativen Absatzmarkt konkurriert.
Einige Fakten dazu: Deutschland war 2020 mit einem Handelsvolumen von 13,3 Milliarden Euro Vietnams größter EU-Handelspartner. Die deutschen Importe aus Vietnam stiegen um 5,9 Prozent auf 10,3 Milliarden Euro an. Die wichtigsten Produkte sind Mobiltelefone, Schuhe, Textilen und Elektronikartikel. Vietnam bezieht aus Deutschland vor allem Maschinen, Fahrzeuge, Arzneimitteln, und Chemieerzeugnisse.
Ausländische Institutionen überbieten sich geradezu in der Wertschätzung der Bedingungen, die das sozialistische Vietnam für die wirtschaftliche Zusammenarbeit bietet. So äußerte auch die Außenwirtschaftsagentur der Bundesrepublik Deutschland Germany Trade & Invest (GTAI): „trotz COVID-19 hat Vietnams Wirtschaft noch die schnellste Wachstumsrate in Südostasien“. Seine „Unternehmen blicken zuversichtlich in die Zukunft“. Nachdem das Bruttoinlandsprodukt 2020 real um knapp 3 Prozent zulegte, werde seine Wirtschaft sich nach COVID-19 2021 „mit einer Wachstumsrate von 6,8 Prozent erholen und auch auf langen Zeitraum ein anhaltend starkes Wachstum erreichen“.
Die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) sieht in der Fertigungs- und Verarbeitungsindustrie Vietnams „eine hohe Inlandsnachfrage“, die auf „starken ausländischen Direktinvestitionen beruhe“. Von deutscher Seite will, wie verlautet, vor allem der deutsche Maschinen- und Anlagenbau seinen Absatz nach Vietnam steigern. Der in den USA ansässige Purchasing Managers Index (PMI), der als der wichtigste Frühindikator gilt, bescheinigte Vietnam von Mai 2018 bis September 2021 einen Durchschnittswert von 50,1 Indexpunkten, wobei es im April 2021 mit 54,7 Punkten den 5. Monat in Folge im Bereich der Expansion liege. In Ho-Chi-Minh-Stadt haben sich in einer German Business Association etwa 290 deutsche Unternehmen zusammengeschlossen, um ihre Aktivitäten zu koordinieren.
Lassen Sie mich unter dem Gesichtspunkt der Kritik von linker Seite an den ausgedehnten Beziehungen Vietnams zum internationalen Kapital zum Schluss noch einmal hervorheben, dass für Vietnam diese Zusammenarbeit auf seinen unabhängigen Positionen eine wichtige wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische Grundlage der Sicherung seines Weges zum Sozialismus ist.
Reporter: Herr Gerhard Feldbauer, vielen Dank für das Interview!
Gerhard Feldbauer ist ein deutscher Journalist und Historiker. Er war mit seiner Frau, Foto-Reporterin Irene Feldbauer, von 1967 bis 1970 als Korrespondent der Nachrichtenagentur ADN der DDR in Hanoi tätig und berichtete über Vietnam, Laos und Kambodscha. Danach war er von 1973 bis 1979 für ADN in Rom. Er promovierte in Geschichte Vietnams (Die Sowjets in Nghe Tinh 1930/31) und habilitierte sich in italienischer Geschichte (zum Faschismus). 1980 wechselt er in den Diplomatischen Dienst und war Botschafter in Zaire (heute wieder Demokratische Republik Kongo), in Burundi und Ruanda. Von 1987 bis 1990 war er als Dozent am Institut für Internationale Beziehungen tätig und bis 1988 Leiter der Ausbildung von Botschaftern. Er hat 15 Bücher verfasst, davon vier zu Vietnam, sowie zahlreiche Broschüren, darunter 2020 „Vor 75 Jahren siegte in Vietnam die Augustrevolution“.